Wenn man neunzig Prozent der Nervenverbindungen kappt, arbeitet das menschliche Gehirn trotzdem noch prima. Das behaupten zumindest Neurowissenschaftler - und haben Beispiele aus dem Straßenverkehr parat.
Das Gehirn ist ein kompliziertes Netzwerk aus Milliarden von Nervenzellen, die direkt oder über Umwege miteinander verbunden sind. Über diese Verbindungen gelangen elektrische Signale von A nach B. Nur so können wir uns daran erinnern, was gestern jemand zu uns gesagt hat, und können uns überlegen, was wir ihm in einer E-Mail heute darauf antworten wollen.
Wissenschaftler vom Bernstein-Center in Freiburg und von der Königlich-Technischen Hochschule in Stockholm stellen jetzt eine gewagte These auf: Selbst wenn man 90 Prozent aller Verbindungen in dem komplizierten Netzwerk Gehirn unterbricht, funktioniere es noch immer zufriedenstellend. Lediglich die wichtigsten Nervenleitungen müssten intakt bleiben, damit noch alle Bereiche des Gehirns zugänglich sind, berichten Simachew Abebe Mengiste und seine Kollegen im Journal "Scientific Reports", einem Onlinemagazin von "Nature." Das zeigt: "Ein komplexes Netzwerk lässt sich auch dann noch kontrollieren, wenn ein hoher Prozentsatz von nichtkritischen Verbindungen verloren geht", sagt Simachew Abebe Mengiste der DW.
Ein Beispiel aus dem Autofahrerleben
Das sei genauso wie im Straßenverkehr, erklärt Mitautor Arvind Kumar von der Königlich-Technischen Hochschule Stockholm im DW-Interview. "Auch wenn einige der Straßen in einer Stadt blockiert sind, durch Baustellen etwa, funktioniert das System noch - solange jedes Gebäude in der Stadt über andere Wege erreichbar ist."
"Aber Moment!", wird da jeder rufen - wenn 90 Prozent der Straßen gesperrt sind, wird im Verkehr nichts mehr funktionieren. Gar nichts! Stattdessen würde großes Chaos ausbrechen: Wegen kilometerlange Staus käme niemand mehr von A nach B. Das stimmt, gibt Kumar zu - aber "daran können wir etwas ändern. Wir müssen einfach nur die Bandbreite der Straßen erhöhen." Mit anderen Worten: die verbleibenden Straßen ausbauen und verbreitern. Dann gibt es auch keine Staus mehr. Und jeder kommt in angemessener Zeit dorthin, wo er hin möchte. Wir bräuchten nicht viele Verbindungen - sie müssen nur breit genug sein, fasst er zusammen.
Wenn es um breitere Straßen und zusätzliche Autobahnspuren geht, endet die Analogie zum Gehirn. Denn das ist da gar nicht nötig. Zwischen zwei Nervenzellen sind keine Autos unterwegs, sondern elektrische Signale. Und die nehmen keinen räumlichen Platz ein, Staus sind unbekannt. "Es gibt niemals so viele Informationen, dass die Nervenzellverbindungen sie nicht transportieren könnten."
Überdimensioniert
"Das Gehirn arbeitet nie bei voller Kapazität", sagt Kumar. Man könne eine Menge Nervenleitungen verlieren, ohne dass das auffalle - jedenfalls solange es um das tagtägliche Verhalten gehe und nicht um Höchstleistungen.
Die Frage, ob ein Gehirn tatsächlich noch genauso leistungsfähig ist, wenn 90 Prozent seiner Verbindungen durchtrennt sind, kann Kumar allerdings nicht beantworten. "Das wissen wir nicht. Aber klar ist: Etwas Beeinträchtigung schadet dem Hirn nicht." Das menschliche Gehirn enthält knapp 100 Milliarden Nervenzellen und noch ein Vielfaches von Verbindungen zwischen ihnen. "Je älter wir werden, desto mehr dieser Verbindungen verlieren wir sowieso", erklärt er. Dreijährige haben doppelt so viele Synapsen wie Erwachsene, ab einem Alter von zehn Jahren nimmt die Zahl der Nervenverbindungen wieder ab.
Wie viele Verbindungen sich unbeschadet entfernen lassen, hängt allerdings auch davon ab, welche genau man durchtrennt. "Stellen Sie sich einen dreidimensionalen Raum vor und eine Fliege darin", sagt Kumar. "Wenn Sie der Fliege die Beine abtrennen, wird sie noch immer alle Punkte im Raum erreichen können. Verliert sie hingegen ihre Flügel, ist sie auf Wände, Decken und Boden beschränkt." Zertrennt man Verbindungen, die für die Funktion des Gehirns wirklich entscheidend sind, ist möglicherweise schon Schluss, bevor der Schwellenwert von 90 Prozent erreicht ist.
Erkrankungen des Gehirn verstehen
Die Ergebnisse, die Kumar und seine Kollegen am Computer gewonnen haben, "können dabei helfen, degenerative Erkrankungen des Gehirns besser zu verstehen", sagt der Neurowissenschaftler. Alzheimer-Demenz zum Beispiel.
Alzheimer-Patienten können nicht mehr auf ihre Erinnerungen zurückgreifen. Und das liegt laut Kumar an fehlenden Nervenverbindungen, die zum Zentrum des Gedächtnisses führen. "Auch wenn die Erinnerungen noch da sind - wenn kein Weg dorthin führt, kann man sie nicht finden."
Die Idee, das Gehirn und seine Erkrankungen im Computer nachzubilden und dadurch besser zu verstehen, ist nicht neu. Genau das versucht das Human Brain Project, ein Großprojekt der Europäischen Kommission. Das US-Projekt Brain Initiative will das Gehirn mit seinen Nervenaktivitäten kartieren.
Seine Forschungsergebnisse hätten aber auch allgemeine Bedeutung, ergänzt Simachew Abebe Mengiste: "Sie zeigen, mit welchen Mechanismen sich die Funktionalität eines komplexen Netzwerk bewahren lässt, das angegriffen wird."
Kumar und seine Kollegen planen als nächstes, ihre Theorie an Versuchstieren zu überprüfen. Es gibt Mäuse, deren Erbgut so verändert ist, dass sie besonders anfällig für Alzheimer sind. Wie viele Nervenverbindungen sie verlieren können, bevor die Tiere deutliche Krankheitssymptome zeigen, will Kumar jetzt herausfinden.
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