Die Stoppuhr im Gehirn
Wissenschaftler aus Freiburg untersuchen mit neuen Methoden die Signalverarbeitung im Gehirn
Freiburg, 06.03.2009
Die Stärke der Reaktion einer nachgeschalteten Zelle (schwarz) auf die Aktivierung vorgeschalteter Zellen in dem jeweiligen Bereich des Gewebeschnitts ist farbkodiert dargestellt. Rot: starke, Blau: schwache Aktivierung. Foto: Clemens Boucsein.
Das Gehirn ist ein hochkomplexes Informationsverarbeitungssystem. Wenn wir sehen, hören, oder uns erinnern, werden Informationen in Form von elektrischen Signalen von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergegeben – nur so können wir Bilder erkennen und Sprache verstehen. In welcher Form aber sind die Informationen in der Folge neuronaler Impulsen enthalten? Kommt es auf die Menge der Impulse an oder auf deren genaues Timing? Diese zentrale Frage der Hirnforschung haben Wissenschaftler um
Dr. Clemens Boucsein, Bernstein
Zentrum für Computational Neuroscience und Universität Freiburg, in
Zusammenarbeit mit Martin Nawrot, Bernstein Zenrum für Computational
Neuroscience Berlin, am Beispiel der Großhirnrinde mit neuen Methoden genauer
untersucht. Sie zeigten: die Nervenzellen reagieren mit einer sehr viel höheren
zeitlichen Präzision, als bisher angenommen. Ihre Arbeit wurde in der
Fachzeitschrift "Frontiers in Neural Circuits" publiziert.
Alle Nervenzellen übertragen Informationen als eine Folge neuronaler Impulse.
Aber die Art und Weise, wie sie Informationen in diesen Signalen verschlüsseln
und wie diese von nachgeschalteten Zellen ausgelesen werden, unterscheidet sich
erheblich. Einige Sinneszellen und Nervenzellen, die Muskeln anregen, nutzen
einen so genannten "Raten Code": je mehr Impulse pro Zeiteinheit,
desto heller das wahrgenommene Licht, lauter der Ton oder desto stärker die
verursachte Muskelkontraktion. Andere Zellen wiederum nutzen einen "zeitlichen
Code": hierbei kommt es nicht auf die Zahl der Impulse an, sondern auf
deren exaktes Timing – darauf, ob eine Zelle einen Impuls wenige Millisekunden
vor oder nach einer anderen Zelle sendet. Dr. Boucsein und seine Kollegen
untersuchten, welche der beiden Strategien Zellen in der Großhirnrinde nutzen.
Jede Zelle in der Großhirnrinde erhält viele Signale von anderen,
vorgeschalteten Zellen. Wenn Zellen in der Großhirnrinde einen
"zeitlichen" Code nutzten, müssten sie auch in der Lage sein, mit
hoher zeitlicher Präzision auf diese Eingangssignale zu reagieren. Um dies zu
überprüfen, haben sich Dr. Boucsein und sein Team einer neuen Methode bedient,
die in ihrem Labor entwickelt wurde. Im Gewebeschnitt messen sie die
elektrische Aktivität einer Zelle, während sie deren vorgeschaltete Zellen in
einer präzise definierten zeitlichen Abfolge aktivieren. Sie nutzen dabei eine
chemische Komponente, die unter dem Einfluss von Licht freigesetzt wird und die
Nervenzellen anregt. Mit einem Laser und einem Spiegelsystem werden auf diese
Weise die vorgeschalteten Zellen immer wieder in der genau gleichen zeitlichen
Abfolge angeschaltet. „Wir waren überrascht, wie reproduzierbar und zeitlich
exakt die nachgeschaltete Zelle auf die Folge von Eingangssignalen reagiert“, sagt
Dr. Boucsein. Das ist alles andere als selbstverständlich. Jedes Signal der
vorgeschalteten Zelle muss an langen zellulären Fortsätzen entlanglaufen, auf
die nachgeschaltete Zelle übertragen und dort wiederum an den Fortsätzen zum
Zellkörper transportiert werden. Bei all diesen Prozessen könnte es –
theoretisch – zu zeitlichen Ungenauigkeiten kommen. Dass die Zellen trotzdem so
akkurat reagieren, zeigt: sie sind für einen Code, bei dem es auf das exakte
Timing ankommt, wie geschaffen. Würden Zellen der Großhirnrinde hingegen einen
Raten-Code nutzen, würden sie nach diesen Befunden eher unzuverlässig arbeiten.
Originalveröffentlichung:
Nawrot MP, Schnepel P, Aertsen A, Boucsein C. Precisely timed signal
transmission in neocortical networks with reliable intermediate-range
projections.
Front
Neural Circuits. 2009;3:1. Epub 2009 Feb 10
doi:10.3389/neuro.04.001.2009
Dr. Clemens Boucsein
Abteilung Neurobiologie & Biophysik
Institut für Biologie III
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Tel.: 0761/203-2862
E-Mail: boucsein@biologie.uni-freiburg.de