Wie Gedanken entstehen
Wissenschaftler aus Freiburg ergründen den „Baustoff“ von Erinnerung und Denken
Freiburg, 08.01.2008
Was ist ein Gedanke?
Zunächst ein Feuerwerk neuronaler Aktivität, gemacht von Neuronen, den
Bausteinen des Gehirns, die Information in Form von elektrischen Impulsen
darstellen und weiterleiten. Hirnforscher hoffen, erklären zu können, wie zum
Beispiel der Torwart beim Elfmeter seine Augen, seine Arme und Beine, und seine
Intuition einsetzt, um ein Tor des Gegners zu verhindern. Nicht immer, wenn wir
denken oder uns erinnern, gibt es aber einen solchen direkten Anstoß von außen.
Ein Team von Wissenschaftlern am Bernstein Center for Computational
Neuroscience der Universität Freiburg um Stefan Rotter vom Freiburger Institut für
Grenzgebiete der Psychologie hat mit Hilfe aufwändiger Computersimulationen
herausgefunden, dass ein sehr großes neuronales Netzwerk
unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne Anregung von außen anhaltende
Aktivität zeigen kann. Diese Aktivität stellt dann, so die Theorie, den
„Baustoff“ für Erinnerungen und Denkprozesse zur Verfügung. Die Arbeit wird in
der Januar-Ausgabe der Zeitschrift „Neural Computation“ veröffentlicht.
Neurone erhalten Signale von vorgeschalteten Zellen, die entweder
erregend oder hemmend sein können. Mathematische Modelle neuronaler Netzwerke
gehen in der Regel davon aus, dass Nervenzellen diese Eingangssignale
miteinander verrechnen und, sobald ein bestimmter Schwellwert erreicht ist,
selbst ein Signal aussenden. Aus verschiedenen experimentellen Analysen weiß
man aber, dass Neurone sich komplexer verhalten, wenn viele Signale innerhalb
kurzer Zeit eintreffen. Das liegt daran, dass sich unter diesen Umständen die
physikalischen Eigenschaften der Zellen vorübergehend dramatisch verändern. Im
Rahmen ihrer Doktorarbeiten haben nun Arvind Kumar und Sven Schrader große neuronale Netzwerke am
Computer simuliert, die diese Eigenschaft der Neurone erstmals im Detail
berücksichtigen. Vor allem in der Großhirnrinde sind Neurone sehr stark
miteinander vernetzt, das heißt, sie erhalten viele Eingangssignale, die dann
die Verrechnung darauf folgender Signale modifizieren. Die Berücksichtigung der
besonderen Eigenschaften von Neuronen in derartigen Netzwerken führt zu einer
hervorragenden Übereinstimmung mit Messungen an biologischen Nervenzellen im
intakten Gehirn. Das neue virtuelle Netzwerk spiegelt die Realität besser wider
als bisherige Modelle.
Ein besonderes Merkmal, in dem sich das Netzwerk von Rotter und seinen
Kollegen von anderen Modellen unterscheidet, ist seine sich selbst
aufrechterhaltende Aktivität. Wenn das Netzwerk groß genug ist, reicht es aus,
es einmal anzuregen – danach bleibt es auch ohne weitere Reizung von außen
aktiv. „Netzwerke aus etwas einfacher gestrickten Modellneuronen hingegen
würden nach kurzer Zeit sozusagen einschlafen“, sagt Rotter. Diese Beobachtung
an künstlichen Systemen lässt Rückschlüsse auf die Funktionsweise unseres
Gehirns zu – denn wenn das Gehirn denkt oder sich erinnert, braucht es dazu
normalerweise keinen unmittelbaren Anstoß von außen. „Es genügt aber nicht,
dass das Gehirn einfach nur aktiv ist“, sagt Rotter, „mit dem Aktivitätsmuster
muss auch Bedeutung verbunden sein“. Wenn wir uns erinnern, muss das Gehirn
Zusammenhänge herstellen können und sinnvolles Verhalten produzieren. Wie aber
im Ozean neuronaler Aktivität des Netzwerks sinnvolle Muster entstehen, ist Gegenstand
weiterer Untersuchungen von Rotter und seinen Kollegen am Bernstein-Zentrum.
Ihr neues Netzwerkmodell bietet ihnen hierzu viel versprechende
Voraussetzungen.
Originalveröffentlichung: Arvind Kumar, Sven Schrader, Ad Aertsen &
Stefan Rotter. The High-Conductance State of Cortical Networks. Neural
Computation, 20(1): 1-43
Kontakt:
PD Dr. Stefan Rotter
Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e.V.
Tel.: 0761/207-2121
E-Mail: stefan.rotter@biologie.uni-freiburg.de
Englische Version unter:
https://www.pr.uni-freiburg.de/pm/2008/Rotter/view?portal_status_message=Changes%20saved.